PALIMPSEST
rück seiten
alles ist durchleuchtet
Ein Text von Johannes Hucke
Du hast nicht viel. Den Einfall, die Hand. Du fängst immer von vorne an. Da liegt was: Der Knochen könnte ein Griffel sein. Du nimmst dir was vor und baust einen Rahmen für Sand; du nimmst dir die Rückseite des Felsens, der dich gegen den Wüstenwind schützt. Ein paar Kratzer, schon ist es ein Zeichen: für deinen Bruder, dass du hier warst. Für dich: dass es dein Bruder gesehen hat. Hier ist Ziegenhaut, gegerbt von den Fachleuten aus der Stadt, da hält deine Nachricht besser. Jetzt brauchst du fähige Transporter: Kohle, zerriebene Rinde. Blut. Silber. Formwandler gehen um. Ihnen ist nichts heilig. Obwohl es ja Götter sind. Oder Verdammte; Ex-Götter, Untote, Geister, mal grauenerregend, mal ulkig, unterwegs, um Schabernack zu treiben, Inspirationen auszulösen: man könnte den Ohrwurm, den der Alte auf dem Berg singt, auch mal aufschreiben. Verwirrung: Was du eben noch lesen konntest, schon ist es Hexenwerk. Der Vampir spuckt den Stein aus den Zähnen und kommt lächelnd zurück: zu dir. Alles wird dir zum Märchen, sobald der Horizont gedeutet ist, schimmernde Matrix, Zeitungen für Vögel und andere Schattenspieler. Für Gestaltwandler; ihnen ist alles heilig.
Das Material: knapp, immer schon; kostbar, gehütet. Von Priestern Schamanen geklaut; unbenutzbar, liegengeblieben in dem Kämmerchen hinter der Sakristei, vorgesehen zum Arschabwischen; wiedergefunden von einem kranken Mönch; behutsam abgeschabt, wiederbeschriftet: technologische Sensationen; Pigmente, auf die Zeitreise geschickt, Tinte aus der Tiefsee, in Worten konserviert, für bessere Tage. Um bessere Tage zu avisieren.
Die Schrift: eckig, abstrakt; ein Paartanz der Zeichen; erfunden von Sklaven auf der Flucht vor dem Pharaonenterror; auf Tontafeln geriffelt, eilig, in Angst: Nachrichten aus dem verwundeten Land; unleserlich nach zwei Generationen, kaum dechiffrierbar, überlagert, zweimal, hundertfach: Palimpseste, immer schon. Es gibt keinen Neuschnee, aber es gibt Palimpseste: knittrige Metamorphosen. Wie sind wir alt geworden! Alt wie die Mönche. Und plötzlich wie neu geboren. Wie ein Zicklein, das seine Haut behalten will, diesmal.
Emergenz: Die Struktur macht Sprünge; eben noch Matsch, schon ein Golem, unterwegs zu den Ahnungslosen; eben Sternenstaub, jetzt Du. Alles geht zugrunde? Wahrscheinlich. Und dann? Alles ist durchleuchtet. Das Paradies hat wieder geöffnet, durch die Drehtür auf der Rückseite. Was heut gehet müde unter, / hebt sich morgen neu geboren. Eichendorff, die Romantiker: Journalisten der Liebe, die an alles glauben. Für ihre Erben ist alles Text.
Der Text: Arp schreibt – der noch lieber ein Dichter war als ein Maler, Skulpteur, Collagist – Arp schreibt: Worte von Wunderwanderungen … lichte Worte entflohener Blumen … Worte alter Eisenbahnen, durch ihren Salatschwenkekorb gehustet … Worte von Sündern beim Auspacken einer Sendung von Engelszungen … träumende Flockenworte … Worte von Engeln für Engel … Worte von einem Teufel, schwarz auf schwarz geschrieben, an einen Luftballon befestigt und zum Teufel geschickt … Worte, die nur gemalt werden können.
BERAUBTE BEDEUTUNG / BEFREITE FORM
Eine Betrachtung von Johannes Hucke
Bachingers Objekt-Fotografie pflegt die Kunst der enthüllenden Verkleidung
Werbe-Nostalgie hat sich schon so lange als Projektfeld etabliert, dass ihr Ansatz selber bisweilen nostalgisch erscheint. Scheinbar nebensächlich ins kindliche Erleben eingespeiste Sprüche und Embleme bieten späterhin ein Depot für Konvergenz-Möglichkeiten, wo es an anderen gemeinsamen Identitätsmerkmalen, an größeren Erzählungen fehlt. Die unterschiedlichsten Disziplinen nähren sich inzwischen aus diesem Zeichen-Pool: Sozialwissenschaften, Kabarett, nicht zuletzt die Werbung selbst.
Für den Bereich der Produkt-Fotografie bedeutet Bachingers Serie so etwas wie das Hereinbrechen der Schwarzen Romantik über die Gefilde argloser Spiele. Die Titel sind getilgt; es bleibt die Kontur, der Gedanke, das freigelegte Design. Positive Besetzungen, emotionalisiertes Wiedererkennen lösen sich vom Produkt-Namen – ein dialektisches Verfahren, das an die dunklen Kunst-Strömungen der Nach-Aufklärung (oder der 2. Aufklärung) erinnert. Die Fläche wird abgedunkelt, der Illusionsapparat abgeschaltet, der Raum geöffnet für das Schimmern der Vieldeutigkeit.
Mit Peter Schlemihl hat Chamisso den Schatten als Protagonisten salonfähig gemacht; E.Th.A. Hoffmann übereignet die Deutungshoheit dem philosophischen Kater und der singenden Maschine; bei Bonaventura (Klingemann) ist es schließlich die Nacht, die den Schauern der Reflexion das Stadt-Tor öffnet. – „Man sieht mehr, wenn es dunkel wird.“ Das hat Enzensberger geschrieben.
Schemen also anstelle von Gewissheiten, verschleiernde Enthüllungen, abgekoppelt vom Spektrum des Intentionalen. Unternimmt es die zeitgenössische „Reklame“, die – ersatzweise – Idol-Stellung der Marken auf Profitmaximierung abzuklopfen, versucht sich Bachinger an der Wiedergewinnung der offenen Struktur des Mythos. Die Frage des Betrachters „Was war das noch eigentlich?“ erfährt eine irritierende Verselbständigung; der – vorläufige – Mangel an Zuordnungsoptionen setzt die innere Erzählung in Gang. Im Assoziationsrepertoire der Wahrnehmung werden just jene Segmente aktiviert, die bei umstandsloser, Ziel geleiteter Rekognostizierung auf der Strecke bleiben.
Bachinger betätigt sich als Emanzipationshelfer – nicht für Golems, sondern für ungestaltete Gedanken, die das Zentrum der Aufmerksamkeit umschweben. Auferweckt von den Untoten, besetzen die Ritter der Reminiszenz die Schaltstellen der Konsumästhetik; was sie vorfinden, sind verbrannte Märkte. Vielleicht ist es das, wovon Kultur im Herzen träumt: Räume besetzen, die frei von Gräueln wären.